Kapitel 11 - Die Bestimmung der Gezeiten in einem Anschlussort

Bei der Gezeitenberechnung unterscheiden wir zwischen Bezugsorten (Standard Ports) und Anschlussorten (Secondary Ports). Als Bezugsorte werden in der Regel bedeutende Handels- und Militärhäfen gewählt, für die vollständige Gezeitentafeln mit allen Hoch- und Niedrigwasserzeiten sowie den entsprechenden Wasserhöhen erstellt werden. Dies ist allerdings sehr aufwändig und kostenintensiv.

Für die übrigen Häfen und Ankerplätze, die wir als Anschlussorte bezeichnen, nutzt man ein vereinfachtes Verfahren. Hier werden über einen kürzeren Beobachtungszeitraum die Unterschiede der Gezeiten zum nächstgelegenen Bezugsort ermittelt. Diese Differenzen werden in übersichtlichen Tabellen zusammengefasst, mit deren Hilfe sich die Gezeitenverhältnisse am Anschlussort berechnen lassen.

 

Man könnte meinen, dass die Zeitendifferenz zwischen Bezugsort und Anschlussort einfach durch eine Verschiebung der Gezeitenkurve zu berechnen sei. Dies ist jedoch nicht der Fall. Wenn beispielsweise das Hochwasser am Anschlussort eine halbe Stunde später eintritt, bedeutet dies nicht automatisch, dass auch das Niedrigwasser um eine halbe Stunde verzögert ist. Ebenso wenig lässt sich bei den Höhen ein konstanter Unterschied annehmen. Ein um 0,3 m höheres Hochwasser am Anschlussort bedeutet nicht zwangsläufig, dass auch das Niedrigwasser 0,3 m höher liegt. Die Zusammenhänge sind komplexer und erfordern daher sorgfältige Berechnungen.

Nehmen wir einmal als Beispiel Diélette, dessen Bezugsort St Malo ist. Die Differenztabelle ist in zwei Hauptbereiche unterteilt:

·       Der linke Tabellenbereich enthält die Zeitunterschiede, aufgeteilt in je zwei Spaltenpaare für Hoch- und Niedrigwasser. Die Spalten sind mit den Zeitfenstern 0100/1300 und 0800/2000 (Hochwasser) und 0300/0800 und 1500/2000 (Niedrigwasser) bezeichnet.

·       Im rechten Tabellenbereich finden sich die Höhenunterschiede, ebenfalls in zwei Spaltenpaaren angeordnet. Für das Hochwasser werden die mittleren Springhoch- und Nipphochwasstände (MHWS/MHWN) angegeben, für das Niedrigwasser entsprechend die mittleren Spring- und Nippniedrigwasserstände (MLWS/MLWN).

 

Mit Hilfe dieser systematischen Aufbereitung der Differenztabelle lassen sich die Verhältnisse am Anschlussort aus den bekannten Werten des Bezugsortes zuverlässig bestimmen.

 

Die Zeitunterschiede, zum Beispiel, zeigen dass:

·       wenn Hochwasser St Malo um 0100 oder 1300 Uhr ist, dann ist das Hochwasser in Diélette bei +0045 - was 45 Minuten später bedeutet

·       wenn Hochwasser in St Malo um 0800 oder 2000 Uhr ist, dann ist das Hochwasser in Diélette bei +0035 - was 35 Minuten später bedeutet.

Ebenso zeigen die Höhenunterschiede, dass:

·       wenn in St Malo das Hochwasser 12.2 m erreicht, dann ist das Hochwasser in Diélette 2.5 m niedriger.

·       wenn in St Malo das Hochwasser  9.3 m erreicht, dann ist das Hochwasser in Diélette 1.9 m niedriger.

Um die Gezeitenzeiten für einen Nebenhafen wie die Diélette zu ermitteln, müssen wir systematisch vorgehen. Der erste wichtige Schritt besteht darin, die Gezeitendaten des zugehörigen Bezugortes - in diesem Fall St Malo - zu finden .

 

Nehmen wir als konkretes Beispiel den 7. Januar: Für den Standardhafen St Malo finden wir in den Gezeitentafeln folgende Werte:

 

  • Hochwasser (HW) um 00:40 Uhr mit einer Höhe von 9.9 m.
  • Niedrigwasser (LW) um 07:28 Uhr mit einer Höhe von 3.7 m.

 

 


Der nächste Schritt ist die Bestimmung der Zeitdifferenz für den Anschussort Diélette. Da das Hochwasser in St Malo um 00:40 Uhr eintritt, also nahe an 01:00 Uhr, verwenden wir den 01:00-Uhr-Zeitunterschied aus der Differenztabelle. Dieser beträgt +45 Minuten (dargestellt als +0045).

Die Berechnung ist nun einfach: Wir addieren zu der Hochwasserzeit in St Malo (00:40 Uhr) die Zeitdifferenz von 45 Minuten. Damit ergibt sich für Diélette eine Hochwasserzeit von 01:25 Uhr.

 

Um die Höhe des Hochwassers in Diélette zu bestimmen, müssen wir zunächst die bekannten Werte des Bezugsortes St Malo betrachten. Das dortige Hochwasser liegt bei 9.9 m über Kartennull. Bei der Auswahl der passenden Spalte in der Gezeitentafel orientieren wir uns an diesem Wert. Da 9.9 m am nächsten an 9.3 m liegt, verwenden wir die entsprechende Spalte, die einen Höhenunterschied von -1.9 m ausweist.

Die Berechnung erfolgt nun durch einfache Subtraktion: vum Hochwasser in St Malo (9.9 m) ziehen wir den Höhenunterschied (-1.9 m) ab und erhalten so die Hochwasserhöhe für Diélette von 8.0 m über Kartennull.

 

Das gleiche Prinzip wenden wir auch für die Bestimmung des Niedrigwassers an. So kommen wir für Diélette zu folgendem Resultat:

 

  • Hochwasser (HW) um 01:25 Uhr mit einer Höhe von 8.0 m.
  • Niedrigwasser (LW) um 08:03 Uhr mit einer Höhe von 3.0 m.

In der praktischen Navigation werden wir häufig mit der Situation konfrontiert, dass die tatsächlichen Gezeitenzeiten nicht exakt mit den in den Tafeln veröffentlichten Werten übereinstimmen. 

 

Nehmen wir als konkretes Beispiel an, dass wir am 22. August nach Diélette segeln und eine die Gezeitenkorrektur benötigen. In St Malo tritt das Hochwasser um 04:56 Uhr ein


Da dieser Zeitpunkt zwischen den in den Tafeln aufgeführten Werten liegt, müssen wir eine Schätzung vornehmen. Der naheliegendste Ansatz basiert auf einer einfachen logischen Überlegung: wenn der aktuelle Zeitpunkt des Hochwassers genau zwischen zwei tabellierten Werten liegt, ist es vernünftig anzunehmen, dass auch die entsprechende Korrektur einen Mittelwert zwischen den angegebenen Korrekturen darstellt. Dieses Verfahren wird als Interpolation bezeichnet.

Für Situationen jedoch, in denen höchste Präzision gefordert ist oder eine nachvollziehbare Berechnung dokumentiert werden muss, verwenden wir die Methode der geometrischen Interpolation.

 

Die geometrische Interpolation

Die Interpolation von Werten lässt sich mithilfe einer einfachen grafischen Methode durchführen. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, genau zu verstehen, was man wo einfügen muss. Zuerst wollen wir die Zeitdifferenzen vom Hoch- und Niedrigwasser berechnen. Wir erinnern uns:

·       Hochwasser ist in St Malo (Bezugsort) um 04:56      -> zwischen 01:00 und 08:00

·       Niedrigwasser ist in St Malo (Bezugsort) um 11:34    -> zwischen 08:00 und 15:00

 

 

 

Für das Hochwasser beträgt die Zeitdifferenz zwischen dem Bezugsort (St Malo) und dem Anschlussort (Diélette):

·       um 01:00        +0045

·       um 08:00        +0035

 

Nun zeichnen wir auf einer Geraden in regelmässigen Abständen die stunden zwischen 01:00 und 08:00 auf. Die genaue Skalierung spielt dabei keine entscheidende Rolle, solange die Abstände gleichmässig gewählt werden (zum Beispiel einen Zentimeter). Eine zweite Gerade schneidet unsere erste Gerade. Auf dieser zweiten Gerade tragen wir wieder in gleichmässigen Abständen die Zeitdifferenzen ein: zwischen +0045 und +0035 ein. Wir sehen nun, dass die Zeitdifferenz bei 01:00 genau 45 Minuten beträgt und können 08:00 mit +0035 verbinden (linke grüne Linie). Wenn wir nun wissen wollen, wie gross die Zeitdifferenz um 04:56 ist, müssen wir die erste grüne Linie einfach parallel verschieben. Wenn wir sie oben auf 04:56 verschieben, können wie unten unser Resultat ablesen: etwas weniger als 39 Minuten. Das erste Hochwasser in Diélette wird am 22. August demnach 39 Minuten später als in St Malo sein.


Die gleiche Rechnung müssen wir nun für das Niedrigwasser machen. Für das Niedrigwasser beträgt die Zeitdifferenz zwischen dem Bezugsort (St Malo) und dem Anschlussort (Diélette):

·       um 08:00        +0035

·       um 15:00        +0025

 

 

Daraus ergibt sich folgende geometrische Interpolation:


Das erste Niedrigwasser in Diélette wird am 22. August demnach 27 Minuten später als in St Malo sein.

 

 Nun wollen wir noch die Höhendifferenzen berechnen. Dabei gehen wir genau gleich vor.

 

 

Aus unserer Tabelle können wir lesen, dass:

·       bei mittlerem Springhochwasser (MHWS) der Pegelstand am Bezugsort (St Malo) 12.2 m über dem Kartennull beträgt, und an unserem Anschlussort (Diélette) hingegen 2.5 m weniger.

·       bei mittlerem Nipp Hochwasser (MHWN) der Pegelstand am Bezugsort (St Malo) 9.3 m über dem Kartennull beträgt, und an unserem Anschlussort (Diélette) hingegen 1.9 m weniger.

·       bei mittlerem Nipp Niedrigwasser (MLWN) der Pegelstand am Bezugsort (St Malo) 4.2 m über dem Kartennull beträgt, und an unserem Anschlussort (Diélette) hingegen 0.7 m weniger.

·       bei mittlerem Springniedrigwasser (MLWS) der Pegelstand am Bezugsort (St Malo) 1.5 m über dem Kartennull beträgt, und an unserem Anschlussort (Diélette) hingegen 0.3 m weniger.

 

Mit diesen Angaben können wir die geometrische Interpolation für die Höhendifferenz bei Hochwasser machen:


Das erste Hochwasser in Diélette wird am 22. August demnach 2 m tiefer sein als am Bezugsort St Malo.

 

 Zum Schluss machen wir noch die geometrische Interpolation für die Höhendifferenz bei Niedrigwasser:


Das erste Niedrigwasser in Diélette wird am 22. August demnach 0.6 m tiefer sein als am Bezugsort St Malo.

Das Gezeitenformular für den 22. August an unseren Anschlussort Diélette können wir nun mit den aus den graphischen Interpolationen herausgelesenen Daten ausfüllen:

 

 

Gezeitenkurven werden in der Regel nicht für Anschlussorte (Secondary Ports)  veröffentlicht. Das Beste, was man tun kann, die Zeiten von Hoch- und Niedrigwasser zu berechnen und dann die Gezeitenkurve für den betreffenden Bezugsort (Standard Port) zu verwenden, wobei man in Kauf nimmt, dass die erzielten Ergebnisse weniger genau sind. Für Diélette verwenden wir also die Gezeitenkurve des Standartortes St Malo. Das sieht dann so aus:

Nun ist es kein Problem mehr auszurechnen, wie hoch die Höhe der Gezeit zum Beispiel um 10:00 Uhr ist. Die Genauigkeit dieser graphischen Methode ist für die meisten navigatorischen Zwecke völlig ausreichend.

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